Nachgefragt: Mit überschüssigen Lebensmitteln Armut lindern

Zahlreiche karitative Organisationen in der Schweiz sammeln überschüssige Lebensmittel und geben diese an Bedürftige ab. Sie treten damit gegen Armut in einem reichen Land an – und retten gleichzeitig geniessbare Lebensmittel vor der Entsorgung. Doch was heisst das konkret?

Im Rahmen unseres Rechercheprojekts zur Verwertung von Lebensmittelüberschüssen haben wir einige Organisationen betrachtet, die zur Unterstützung von finanziell schlecht gestellten Menschen in der Schweiz Lebensmittel abgeben. Sie tun dies entweder kostenlos oder gegen einen solidarischen Kleinbetrag.

Die abgegebenen Waren sind einwandfrei. Sie werden durch Hersteller oder Handel gespendet, sei es infolge von Überproduktion, leichter Verpackungsschäden, Saisonwechsel oder weil sie in der vorhandenen Menge nicht innert einer kurzen Haltbarkeitsdauer verkauft werden können. Das Sortiment reicht von Frischprodukten wie Obst, Gemüse, Milchprodukte oder Brot über Waren aus dem Trockensortiment (Getränke, Konserven, Süssigkeiten etc.) bis hin zu Tiefkühlprodukten.

Die bekannten Namen

Die Schweizer Tafel sammelt Lebensmittel bei Grossverteilern, Produzenten und Detaillisten ein. Die Organisation verteilt die Lebensmittel gleichentags an soziale Institutionen wie Obdachlosenheime, Gassenküchen, Notunterkünfte und andere Hilfswerke zu Gunsten armutsbetroffener und bedürftigen Menschen. Sie betreibt selber keine Lagerhaltung und kein Verteilnetz an Einzelpersonen.

  • Total verteilte Lebensmittel: 4000 Tonnen im Jahr (16 Tonnen/Tag)
  • Abgabe der Lebensmittel: an 510 soziale Institutionen und Abgabestellen, die anschliessend weiter verteilen
  • Produktespenden melden

Tischlein deck dich sammelt Lebensmittel von fast 1’000 Produktspendern aus Landwirtschaft, Grosshandel, Industrie und Detailhandel. Armutsbetroffene Menschen mit können bei einer Sozialfachstelle eine Legitimation erhalten und an einer der eigenen Verteilstellen für den symbolischen Betrag von einem Franken einen Lebensmittelkorb beziehen.

  • Total verteilte Lebensmittel: 4’190 Tonnen im Jahr
  • Abgabe der Lebensmittel: 131 Abgabestellen mit 19’110 Empfänger/innen pro Woche
  • Produktespende melden

Die Schweizer Tafel und Tischlein deck dich sind mit Abstand die sichtbarsten Player im Bereich. Die meisten Menschen haben zumindest schon mal von einer der beiden Organisationen gehört. Beide erbringen ihre Leistungen zu einem grossen Teil mit der Unterstützung von freiwilligen Helferinnen und Helfern.

In Gesprächen oft genannt wird auch Caritas, die für Menschen mit einer Bezugskarte eigene Ladengeschäfte betreibt und Warensortiment zur Deckung des Grundbedarf verkauft. Caritas arbeitet nur am Rande mit gespendeten Überschüssen, sondern kauft zu bestmöglichen Konditionen ein, um die günstigen Preise für finanziell schwache Menschen zu ermöglichen. Wir haben sie deshalb in der Erhebung nicht berücksichtigt.

Die Lokalen: Eine Stichprobe

Nebst den grossen Playern gibt es ein Feld von kleineren Organisationen, die einer vergleichbaren Tätigkeit nachgehen. Meist sind diese lokal organisiert und verankert. Hier einige exemplarische Daten:

Food Care bietet Menschen am oder unter dem Existenzminimum direkte und unkomplizierte Hilfe an, hauptsächlich in der Ostschweiz.

  • Total verteilte Lebensmittel: 1’250 Tonnen im Jahr (25 Tonnen/Woche)
  • Abgabe der Lebensmittel: 19 Abgabestellen, Obdachlosenheime und soziale Institutionen
  • Produktespende melden
«2018 sind in der Schweiz 670 000 Personen von Armut betroffen. Betrachtet man einen Zeitraum von vier Jahren, ist jede achte Person von Armut betroffen.» Quelle: caritas.ch

Remar unterstützt Familien am Existenzminimum in den Regionen Zürich und Basel mit Lebensmitteln.

  • Total verteilte Lebensmittel: 965 Tonnen
  • Abgabe der Lebensmittel: 300 Familien am Tag

Partage, Region Genf bietet Unterstützung von bedürftigen Personen im Raum Genf.

  • Total verteilte Lebensmittel: 907 Tonnen
  • Abgabe der Lebensmittel: an 54 Hilfsorganisationen mit 11’613 Bezüger/innen pro Woche

Logistik und Verteilung

Die Organisationen verfügen über unterschiedlich grosse und ausgestattete Fahrzeugflotten und teilweise Platz zum lagern haltbarer Lebensmittel. Die Lebensmittel werden von den Organisationen eingesammelt und innerhalb weniger Tage verteilt.

Für die Feinverteilung der Lebensmittel setzen sich regionale, auch kleinere Organisationen ein. Einige Beispiele: Sozialwerk Pfarrer Sieber, Teller statt Kübel, Aufgetischt statt Weggeworfen, Verein Phari, Colis du coeur und viele mehr.

Wer spendet?

Die Organisationen erhalten Lebensmittel und teilweise Hygieneartikel aus der ganzen Bandbreite der Produktionskette, angefangen bei Landwirtschaft und Grosshandel über die Industrie bis hin zum Detailhandel.

Beispiel: Die Kambly S.A. spendet jährlich zwischen 7 und 10 Tonnen an Produkten – das sind 70 000 bis 100 000 handelsübliche Biscuit-Packungen à 100 Gramm. Dabei handelt es sich um qualitativ einwandfreie und noch nicht abgelaufene Produkte, die entweder optisch beeinträchtigt sind oder aufgrund einer verkürzten Mindesthaltbarkeit nicht mehr in den Detailhandel gelangen.
Quelle: Jahresbericht 2018 Tischlein Deck dich

Gibt es im Rahmen der Spenden wiederum Überschüsse einzelner Warengruppen?

Laut dem Jahresbericht von Tischlein deck dich entsorgt die Organisation rund 6% der angenommenen Waren. Das Thema Mindesthaltbarkeit spielt eine grosse Rolle: Ware mit einer Kennzeichnung nach Mindesthaltbarkeitsdatum werden bei der Mehrheit der Organisationen nicht mehr abgegeben.

Zum Thema Verschwendung im Rahmen der Abgabe an Privatpersonen meint Sonja Graesslin, ehemals Leiterin Schweizer Tafel Region beider Basel:

«Je gleichbleibender die abgegebene Warenmenge pro Person ist (z.B. volle Einkaufstasche), desto weniger bleibt liegen. Dies bedeutet aber für die abgebenden Organisationen Mehraufwand beim koordinieren und bereitstellen der Lebensmittel.»

Überschuss Nummer 1: Brot!

Alle angefragten Organisationen geben an, genug oder sogar zu viel Brot zur Verfügung zu haben. Zum Teil haben die Abgabestellen sogar bereits Probleme, das Brot sinnvoll zu verteilen. Im Gespräch mit einigen Kontaktpersonen aus dem Bäckereigewerbe bestätigt sich die Beobachtung: Verschiedene Unternehmen möchten ihre Überschüsse gerne spenden, finden aber gar keine karitativen Abnehmer/innen mehr.

Gibt es Warengruppen, die den karitativen Organisationen fehlen?

Die Organisationen gehen unterschiedlich mit den zu verteilenden Lebensmittel um. Die einen verteilen schlicht das, was sie angeboten bekommen, andere formulieren auf Nachfrage klar die fehlenden Produkte. Grundsätzlich sehr gefragt und eher Mangelware sind lang haltbare Lebensmittel wie Konserven, Produkte im Glas, Teigwaren, Reis und Haferflocken. Auch Milchprodukte und Fleisch kommen selten zu den Organisationen.

Finanzierung

Alle der genannten Organisationen sind auf Spenden angewiesen, um Fahrzeuge, Infrastruktur und Transport zu finanzieren.

Die Zahlen

  • Total bewegte Warenmenge durch die hier betrachteten Organisationen: 11’312 Tonnen
  • Warenwert der erhobenen Produkte: CHF 73’528
  • Total Foodwaste in der Schweiz: 2 Millionen Tonnen
  • Die erhobene Warenmenge entspricht 0,56% der schweizweiten 2 Millionen Tonnen Foodwaste

Herleitung:
Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2018. Basis sind 48 Wochen auf Basis der konkreten Angabe von Tischlein deck dich; eine Woche entspricht 5 Arbeitstagen. Rechnerischer Warenwert pro Kilo ca. CHF 6.50, auf Basis der Angaben der Schweizer Tafel. Alle Organisationen sind spendenfinanziert.